Roméo et Juliette ist dieses seltene Beispiel für eine Oper, in der die Musik das Drama, das es darstellt, überholt. Charles Gounod wusste, dass er die Erzählung des Originals nicht verbessern konnte, weshalb er sich stattdessen darauf konzentrierte, wie seine Komposition die Emotionen der Charaktere am besten offenbaren könnte.
Seine Instinkte erwiesen sich als sehr weitsichtig. Auch heute ist Romeo und Julia wohl die bekannteste von Shakespeares Erzählungen, und der Dialog der Balkonszene ist der am häufigsten zitierte.
Die Vertrautheit mit der Geschichte erlaubt dem Publikum, sich auf die Schönheit der Melodien und die Feinheit der Orchestrierung zu konzentrieren, die Gounod so geschickt in dieser wunderbaren Arbeit verbindet. Nur ein Beispiel: das Duett „Ah! Ne fuis pas encore!“ (Ah! Fliehe nicht schon wieder!) zwischen Romeo und Julia, in dem beide ihre Liebe füreinander erklären, sieht die Streicher Romeos Trotz verstärken, während eine einzelne Oboe Julias klagende Resignation reflektiert.
Durchweg ist es möglich, sich die Instrumente als dritten unsichtbaren Protagonisten, der mit Not und Wirren der beiden Liebenden sympathisiert, vorzustellen. Es ist ein Stück, das ganz wortwörtlich Gänsehaut hervorruft.
Die Geschichte einer unmöglichen Liebe, eine Liebe, vereitelt von zwei verfeindeten Familien, die auf ein unvermeidliches und tragisches Ende zurast, findet Roméo et Juliette seinen Einklang mit dem Publikum von heute ebenso wie damals, als es zum ersten Mal vor etwa 150 Jahren aufgeführt wurde. Uraufgeführt am Pariser Théâtre Lyrique im Jahre 1867 und nun in der Aufführung an der Wiener Staatsoper, ist es ein Werk, in dem die Handlung der Inspiration für die musikalische Interpretation dient, die unsere innersten Gefühle sowohl entblößt als auch uns mit ihnen verbindet.
Roméo et Juliette, C. Gounod


Vienna State Opera
© Julius Silver